Das schmalste Handtuch Kreuzbergs

Kreuzbergs Architektur hat etwas von einem Jazzalbum von Thelonius Monk. Thelonius Monk machte den Fehler in seiner Musik zum System. Erst dadurch wurde sie grandios. Die perfektionistischen Architekten des 19. Jahrhunderts achteten bei der Parzellierung der neu entstehenden Grundstücke in der damaligen Luisenstadt (dem heutigen Kreuzberg) darauf, dass alle Häuser eine Breite von genau 20 Metern bemaßen. Man wollte damit ein einheitliches Stadtbild erzeugen. Ausgerechnet dieser Perfektionismus führte dazu, dass hässliche kleine Baulücken zwischen den Häusern standen. Mit der wachsenden Bevölkerung und der steigenden Nachfrage nach Wohnraum wurden diese Lücken geschlossen. Die winzigen Häuser, die zwischen den herrschaftlichen Fassaden der Lenné- und Stüler-Bauten entstanden, nannte man, weil sie irgendwie langgestreckt aussehen, “schmale Handtücher”. Es sind diese Lückenschließungen, die Kreuzberg sein charakteristisches Stadtbild verleihen. Nicht perfekt, aber grandios. Wie die Musik von Thelonius Monk.

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Das kleinste dieser “schmalen Handtücher” ist das “Oranien 46″, benannt nach seiner Hausnummer auf der Oranienstraße. Gebaut wurde es von seinem ersten Besitzer, dem Konditormeister Eduard Felix Kühn, 1864 auf gerade mal 9 Metern und 10 Zentimetern. Ein glücklicher Zufall bewahrte das Häuschen vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.
Man mag noch so oft auf der Oranienstraße unterwegs gewesen sein – das winzige Stadthäuschen übersieht man, trotz seiner markanten postschinkelschen Züge, schnell. Dabei ist es nicht nur einen Besuch aus Prinzip wert – dürfte es sich bei dem zwischen Nummer 44 und 48 gelegenen Minuaturexemplar von Bürgerhaus um eines der kleinsten Häuser in ganz Berlin handeln.
Besser noch: Man kann es sogar von innen besichtigen, denn der heutige Besitzer Ralf Hemmen, ein Diplom-Physiker, der die Geschichte des Hauses sogar in einem Aufsatz veröffentlicht hat, vermietet die Räumlichkeiten des Hauses als Galerie.

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Zur Zeit, aber leider nur noch bis zum 6. Dezember, zeigen die Künstlerinnen Sigrun Drapatz und Eva Liedtjens die sehr gelungene Ausstellung “Open Water” über die Flucht über das Mittelmeer und die Ankunft von Flüchtlingen in Europa.

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Mehr Informationen: Oranienstraße 46, Kreuzberg, zwischen Moritzplatz und Kottbusser Tor. Öffnungszeiten bei den Galeriebetreibern.

Kostenpunkt: Die aktuelle Ausstellung kostet nix!

Was noch in der Nähe ist: Na, Kreuzberg halt! Im Sommer empfehlen wir einen Besuch des urbanen Gartenprojekts Prinzessinnengarten, wo übrigens regelmäßg auch Flohmärkte stattfinden.

Essen und Trinken: Knofi Feinkost, das ebenfalls auf der Oranienstraße liegt. Man kann sich dort mit den köstlichsten Pasteten versorgen – oder sich dort tellerweise zusammenstellen lassen. Ein Gedicht!

An dieser Stelle noch ein kleiner Buchtipp: Wer sich für die architektonischen Vorstellungen insbesondere Peter Joseph Lennés interessiert, dem sei wärmstes Thomas Hettches Roman “Pfaueninsel” empfohlen, er auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 stand und der persönliche Favorit der Autorin war.

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