Mit Dieter durch die City West

Dieter Bichler verbrachte den Herbst/Winter 2012 auf der Straße. Meistens übernachtete er irgendwo zwischen Bahnhof Zoo und Savigny-Platz – auf den Gittern über dem U-Bahntunnel der U2, durch die auch im Winter heiße Luft nach oben dringt, vor dem windgeschützten Eingang der Post am Kudamm oder auf einer der wenigen breiten Parkbänke im eleganteren Teil Charlottenburgs.
Die Geschichte, wie er auf der Straße landete und auf ihr überlebte, erzählt Dieter bei der Tour “City West”, die das Programm “querstadtein” des Berliner Vereins “Stadtsichten” anbietet. Ehemalige Obdachlose führen entweder durch Berlin-Mitte oder die City West und zeigen dabei ein Berlin, das jeder täglich erleben kann, vor dem die meisten aber doch die Augen verschließen, so gut es eben geht.

Ernst Reuter Platz

Die Perspektive wechseln

Dieter hatte sich gewissermaßen selbst auf seine Obdachlosigkeit vorbereitet. Er war mit eigenem Schlafsack und eigener Isomatte ausgestattet, als er auf der Straße landete. Trotzdem froren seine Füße in einer kalten Winternacht so sehr ein, dass Teile davon amputiert werden mussten.
Bei der Tour in der City West präsentiert sich das radikale Gefälle zwischen dem gutbürgerlichen Charlottenburg rund um den Savigny-Platz und der krassen Armut, die rund um den Bahnhof Zoo herrscht in aller Gewalt. Wenn Dieter vor dem Luxus-Einrichtungshaus “Stilwerk” steht und erzählt, wie es sich anfühlte, ein zehntausend Euro schweres Bett zu testen. Oder wenn er erzählt, wie er und seine Freunde vor einer staatlichen Einrichtung vertrieben wurden, weil deren Mitarbeiter – so der Wortlaut – “bei ihrem Frühstückskaffee nicht mit Armut konfrontiert” werden wollten. Wer die City West einmal aus einer ganz neuen Perspektive erleben will, ist auf dieser Tour richtig aufgehoben.

Die Tour macht auch Hoffnung

Dieter bekam nach wenigen Monaten der Obdachlosigkeit die Kurve. Es war wohl ein Teil Eigeninitiative, aber auch viel Glück und der Hilfsbereitschaft anderer geschuldet, dass er heute wieder in einer Wohnung leben kann. Im Vergleich zu anderen Obdachlosen war seine Erfahrung auf der Straße eine kurze. “Es war aber lange genug”, sagt Dieter, und man mag es ihm nach den vielen Geschichten der Ignoranz und Skrupellosigkeit der nichtobdachlosen Außenwelt, die er auf Lager hat, gern glauben. Diese Tour ist nichts für schwache Nerven, sie birgt aber auch jede Menge Hoffnung. Freilich erfährt man von bürokratischen Hürden, vom Elend, in das die Sucht nach Alkohol und Drogen so manchen Obdachlosen stürzt. Dieter weiß aber auch von hilfsbereiten Menschen zu berichten, die ohne Erwartung einer Gegenleistung Hilfe anboten, Zigaretten oder Essen spendeten. Berlin, das auf viele wie eine besonders kaputte Stadt wird, erscheint in den Erzählungen Dieters eben auch als Stadt, die ihre Bewohner auffängt – ob sie nun eine Wohnung haben oder nicht.

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Mehr Infos: Direkt beim Veranstalter “querstadtein”

Kostenpunkt: 13 Euro, ermäßigt 6,50 Euro

Essen und Trinken in der City West: Currywurst am Bahnhof Zoo.

Weihnachtsmarkt: Unter dem Himmel Berlins

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Wir sind zwar keine Fans von Weihnachtsmärkten – und springen nur ungern auf den Zug Derjenigen auf, die die angeblich schönsten, hippsten und mit ähnlichen aussagelosen Attributen belegten Berliner Weihnachtsmärkte empfehlen – oder gar die Chuzpe besitzen zu behaupten, einen Geheimtipp für einen schönen, unbekannten Weihnachtsmarkt zu haben. So einen Weihnachtsmarkt gibt es nicht – mit möglicherweise einer Ausnahme.
Der sehr unkonventionelle Markt im Klunkerkranich, dem Stadtgarten auf dem Dach der Neukölln-Arkaden, erinnert so gar nicht an Weihnachten. Mit Ausnahme von Glühwein wird hier nichts verkauft, das andernorts auf Weihnachtsmärkten zu finden ist. Auch versammeln sich hier – noch – nicht, wie zum Beispiel beim legendären Alt-Rixdorfer Weihnachtsmarkt all jene, die selbigen schon kannten, als es tatsächlich noch ein Geheimtipp war UND all jene, die sich einbilden, qua ihrer Neukölln-Residenzschaft ganz besondere Individuen zu sein – was die einstmals schöne Veranstaltung zum Albtraum für Klaustrophobiker macht.
Wir raten euch, den Klunkerkranich-Markt an einem Sonntag aufzusuchen – da gibt’s den Gruseleffekt, der beim Besuch eines geschlossenen Einkaufszentrums entsteht, gleich gratis obendrauf.

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Wo: Auf dem Parkdeck der Neukölln-Arcaden, U-Bahnhof Rathaus Neukölln

Was noch? Wem noch nicht kalt genug ist, könnte an einer Führung auf dem Tempelhofer Flugfeld teilnehmen.

Essen und Trinken: Gemütlich Kaffee & Kuchen im Café Ole, einem wirklich schönen Café mit großartigen, hausgemachten Speisen (Kuchen, Torten, Quiches). Man kann auch in Gebärdensprache bestellen!

Den Wedding entdecken: Führungen durchs Afrikanische Viertel

Hat sich schon mal jemand gefragt, warum es in Berlin ein “afrikanisches” Viertel gibt? Straßen wie die Ghanastraße, Kameruner Straße oder Togostraße strukturieren den Minibezirk am nördlichen Ende des Weddings. Und dann gibt es da noch die beiden Straßen, die nach den Kolonialverbrechern Carl Peters und Adolf Lüderitz benannt sind und zusammen mit dem Nachtigalplatz ein Dreieck kolonialer Vergessenheit bilden.
Nie gehört? Dann wird es Zeit, an einer der von der Berliner NGO “Berlin postkolonial” angebotenen Wedding-Führungen teilzunehmen. Aus Sicht von Berlin-Spaziergänge handelt es sich dabei um eine der besten Führungen, die in Berlin angeboten werden.

Afrikanische Straße

Es sei die Bevölkerungszusammensetzung, die dem Afrikanischen Viertel im Berlin seinen Namen verleihe. Das hört man immer wieder, auch eine einfache Google-Recherche führt zu diesem Ergebnis. Es stimmt: Die Black Community ist im Wedding größer als in anderen Stadtteilen, und einige deutsch-afrikanische Verbände haben just im Afrikanischen Viertel ihren Sitz. Historisch greift diese Namensdeutung aber viel zu kurz. Das Afrikanische Viertel ist vor allem eines: Ein Kolonialviertel, und zwar das größte im Land.

CC-BY-SA-3.0-de

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Die Afrikanisten und Politikwissenschaftler von “Berlin postkolonial” erklären in ihren etwa dreistündigen Touren, wie es zu den Straßenbenennungen im Afrikanischen Viertel kam, schlagen Brücken zur allgemeinen deutschen Kolonialgeschichte und zur Verherrlichung und Heroisierung von Kolonialverbrechen während des “Dritten Reiches”. Der schockierendste dieser Fälle führt die Gruppe zur Petersallee. Nachdem er selbst von in seinem imperialistischen Eifer kaum zu stillenden Kaiser Wilhelm II. unehrenhaft erlassen worden war, erhielt der brutale Kolonialherrscher und “Gründer” von Deutsch-Ostafrika, Carl Peters, unter den Nazis seine Ehre zurück. Hitler persönlich rehabilitierte ihn, Filme, Bücher – und die Petersallee – stilisierten Peters zum Volkshelden.
Die postkolonialen Führungen im Wedding räumen mit dem Mythos des “Afrikaforschers” auf, mit dem allen deutschen Kolonialgründern bis heute eine Art guter Wille attesttiert wird.

Keineswegs ist dies jedoch eine rein historische Führung. Der Bezug zur Gegenwart bleibt gewiss, ebenso wie die Begegnung mit dem ein oder anderen angriffslustigen Anwohner während der Führung. Die Straßenumbenennungsinitiative von “Berlin postkolonial” und anderen Verbänden steht anderen Einwohnerinteressen gegenüber. All das ist Thema dieser wirklich sehr empfehlenswerten Führung. Übrigens: Die Guides sind echte Experten auf ihrem Gebiet und diskutieren gern. Doch auch, wer bisher wenig über Kolonialgeschichte weiß, wird hier auf seine Kosten kommen. Denn: Dumme Fragen gibt es nicht.

Petersallee

Mehr Infos: Direkt beim Veranstalter “Berlin postkolonial”

Kosten: 8 hervorragend investierte Euro.

Was noch? Tja, kommt er nun, der Wedding oder doch nicht? So oder so – die Freizeitgestaltung nach der Postkolonial-Führung hängt vor allem von der Jahreszeit ab. An heißen Sommertagen solltet ihr unbedingt eure Fahrräder dabei haben und noch ein paar wenige Kilometer nach Norden fahren. Dort lässt es sich, trotz Fluglärm, am Flughafensee hervorragend baden. Zum anderen gibt es ja auch im Wedding Kultur, wenn vielleicht auch eher bodenständigen Formats. Warum also nicht mal wieder eine Folge “Gutes Wedding, schlechtes Wedding” im Prime-Time-Theater gucken? Oder die prosaischere Variante wählen und den Brauseboys beim Vorlesen lauschen?

Essen und Trinken in der Nähe:
Cool und lecker ist es im Café Pförtner in der Uferstraße. Mit etwas Glück gibt es in den direkt daneben gelegenen Uferhallen eine tolle Ausstellung!

Das schmalste Handtuch Kreuzbergs

Kreuzbergs Architektur hat etwas von einem Jazzalbum von Thelonius Monk. Thelonius Monk machte den Fehler in seiner Musik zum System. Erst dadurch wurde sie grandios. Die perfektionistischen Architekten des 19. Jahrhunderts achteten bei der Parzellierung der neu entstehenden Grundstücke in der damaligen Luisenstadt (dem heutigen Kreuzberg) darauf, dass alle Häuser eine Breite von genau 20 Metern bemaßen. Man wollte damit ein einheitliches Stadtbild erzeugen. Ausgerechnet dieser Perfektionismus führte dazu, dass hässliche kleine Baulücken zwischen den Häusern standen. Mit der wachsenden Bevölkerung und der steigenden Nachfrage nach Wohnraum wurden diese Lücken geschlossen. Die winzigen Häuser, die zwischen den herrschaftlichen Fassaden der Lenné- und Stüler-Bauten entstanden, nannte man, weil sie irgendwie langgestreckt aussehen, “schmale Handtücher”. Es sind diese Lückenschließungen, die Kreuzberg sein charakteristisches Stadtbild verleihen. Nicht perfekt, aber grandios. Wie die Musik von Thelonius Monk.

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Das kleinste dieser “schmalen Handtücher” ist das “Oranien 46″, benannt nach seiner Hausnummer auf der Oranienstraße. Gebaut wurde es von seinem ersten Besitzer, dem Konditormeister Eduard Felix Kühn, 1864 auf gerade mal 9 Metern und 10 Zentimetern. Ein glücklicher Zufall bewahrte das Häuschen vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg.
Man mag noch so oft auf der Oranienstraße unterwegs gewesen sein – das winzige Stadthäuschen übersieht man, trotz seiner markanten postschinkelschen Züge, schnell. Dabei ist es nicht nur einen Besuch aus Prinzip wert – dürfte es sich bei dem zwischen Nummer 44 und 48 gelegenen Minuaturexemplar von Bürgerhaus um eines der kleinsten Häuser in ganz Berlin handeln.
Besser noch: Man kann es sogar von innen besichtigen, denn der heutige Besitzer Ralf Hemmen, ein Diplom-Physiker, der die Geschichte des Hauses sogar in einem Aufsatz veröffentlicht hat, vermietet die Räumlichkeiten des Hauses als Galerie.

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Zur Zeit, aber leider nur noch bis zum 6. Dezember, zeigen die Künstlerinnen Sigrun Drapatz und Eva Liedtjens die sehr gelungene Ausstellung “Open Water” über die Flucht über das Mittelmeer und die Ankunft von Flüchtlingen in Europa.

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Mehr Informationen: Oranienstraße 46, Kreuzberg, zwischen Moritzplatz und Kottbusser Tor. Öffnungszeiten bei den Galeriebetreibern.

Kostenpunkt: Die aktuelle Ausstellung kostet nix!

Was noch in der Nähe ist: Na, Kreuzberg halt! Im Sommer empfehlen wir einen Besuch des urbanen Gartenprojekts Prinzessinnengarten, wo übrigens regelmäßg auch Flohmärkte stattfinden.

Essen und Trinken: Knofi Feinkost, das ebenfalls auf der Oranienstraße liegt. Man kann sich dort mit den köstlichsten Pasteten versorgen – oder sich dort tellerweise zusammenstellen lassen. Ein Gedicht!

An dieser Stelle noch ein kleiner Buchtipp: Wer sich für die architektonischen Vorstellungen insbesondere Peter Joseph Lennés interessiert, dem sei wärmstes Thomas Hettches Roman “Pfaueninsel” empfohlen, er auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2014 stand und der persönliche Favorit der Autorin war.

Flugfeld mit Guide

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Ja, diese Fotos stammen tatsächlich aus dem Berliner November. Dieser Herbst ist gnädig.
Ohnehin kann man kaum genug Zeit auf dem Tempelhofer Flugfeld verbringen. Es muss aber gar nicht das Drachenlaufen oder Kitelandboarding sein, mit dem sich die Berliner Hipster in diesen Tagen die Zeit vertreiben. Wer es lieber intellektuell mag, kann an einer der Parkführungen teilnehmen, die von der Initiative Tempelhofer Freiheit angeboten werden.

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Denn, und das lässt sich auch aus Anwohnersicht unterstreichen, es gibt wohl kaum einen Ort in Berlin, der auf derart drastische Weise die Berliner Geschichte des 20. Jahrhunderts in sich vereint wie der ehemalige Flughafen Tempelhof und das dazugehörige Flugfeld.
In der Führung geht es um die Gründung des Flughafens in den 20er Jahren, vor allem aber die Pervertierung, die er im “Dritten Reich” erfuhr. Viel zu wenige wissen um das KZ Columbia, das die Nazis hier einrichteten, ebenso wie von den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, die ab 1940 für die Wartungsarbeiten an den Sturzkampfbombern versklavt wurden und ihre Unterkünfte auf dem Flugfeld hatten.

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Der bekanntere Teil der Tempelhof-Geschichte berührt die Berlin-Blockade. Die Luftbrücke ist ein Thema der Führung, es werden aber auch Relikte des ganz alltäglichen Flughafenbetriebs gezeigt, der erst 2008 eingestellt wurde.

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Die Touren dauern 90 Minuten. Bleibt also genug Zeit, um danach noch einer flugfeldtypischen Beschäftigung nachzugehen: Picknick, Spiel oder Sport.
Übrigens: Eine tolle Besonderheit der Parkführungen besteht in der Flexibilität der Guides. Es sind auch Führungen mit individuell gewählten Schwerpunkten (Geschichte, Natur, Initiative Tempelhofer Freiheit) möglich.

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Mehr Informationen: Direkt bei der Tempelhofer Freiheit, die die Führungen anbietet.

Kostenpunkt: 12/8 Euro.

Was noch? Relaxen auf dem Flugfeldwiesen!

Essen und Trinken: Wie wäre es mit einem leckeren Eis im Schillerkiez? Die beste Pizza in Neukölln gibt es bei Antonia Vigneri.

Schick dich selbst in die Wüste

Hand aufs Herz: Wie viele von euch wussten, dass es hierzulande Wüsten gibt? Eine der größten Wüsten Mitteleuropas, und das mag nun weniger überraschen, liegt nicht mal 100 Kilometer von Berlin entfernt, nahe Cottbus. Einst ein großer Wald, entstand die Lieberoser Endmoräne infolge eines Großbrands im Jahr 1942, wurde in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten als Truppenübungsplatz genutzt und erholte sich demzufolge nicht von der – Achtung vor diesem Wortspiel – Verwüstung.

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Warum also hinfahren? Die Lieberoser Wüste ist keine Sahara, und wir wollen vorausschicken, dass ihr euch relativ schnell an ihr sattgesehen haben werdet. Trotzdem: Der Faszination, die von der lebensunfreundlichen Landschaft dieser Endmoräne ausgeht, sollte sich nicht verschließen, wer es nicht weit zu ihr hat. Und das betrifft außer den Berlinern nur noch die Lausitzer. Hinzu kommt, dass die Lieberoser wüste nicht auf ewig als solche verharren wird. Schon jetzt holt sich die Natur sichtbar das zurück, was ihr die Brandstifter vor 70 Jahren genommen haben. Hie und da ein Strauch, an den Rändern immer mehr Bäume: Das Ziel der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg Brandenburg, die Entwicklung eines Wildnisgebiets voranzutreiben, erscheint nicht mehr in allzu weiter Ferne.

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Weitere Informationen: Bei der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, die auch Exkursionen entlang des Wildnispfades anbietet.

Wie man hinkommt: Tja, da ist er, der Haken. Die Erreichbarkeit der Lieberoser Endmoräne mit öffentlichen Verkehrsmitteln verhält sich proportional zu ihrem Bekanntheitsgrad. Ihr habt zwei Möglichkeiten: Die erste wäre, mit dem Auto hinzufahren, dazu fahrt ihr ab Berlin 95 Kilometer lang Richtung Cottbus, bis ihr zu eurer Linken die Wüste seht. Die zweite, sportlichere wäre: Mit dem RE nach Cottbus und von da mit dem Fahrrad. 20 Kilometer wären das.

Was sich noch damit verbinden lässt: Da wüssten wir was! Der Spreewald ist gerade mal einen Katzensprung entfernt – beides an einem Tag schafft man locker.

Lobbykritische Stadtführungen

An verregneten Herbsttagen lohnen sich Ausflüge ins brandenburgische Umland nur für Hartgesottene. Weil der November uns mit immer schnelleren Schritten entgegenschreitet, empfehlen wir euch, für einen der nächsten Samstagnachmittage eine spannende Stadtführung in Berlin einzuplanen. Am besten mit Schirm.

Die empfohlene Stadtführung führt euch ausgerechnet in jenen Stadtteil, den man normalerweise meiden sollte: nach Mitte, und zwar mittenrein ins Touristengetümmel. Das ist mehr als nervig, aber hochinteressant. Denn Mitte ist nicht nur Hochburg für Touristen, sondern auch für Lobbyisten. Vom Schiffbauerdamm bis zum Pariser Platz haben die mächtigsten unter den nichtparlamentarischen Mitentscheidern ihre Büros. Diese fungieren als Stationen der lobbykritischen Stadtführungen, die LobbyControl regelmäßig anbietet. Da sie (zu Recht) eine überaus hohe Popularität genießen, ist eine vorherige Anmeldung per E-Mail unverzichtbar.

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Nach bereits zwei lobbykritischen Stadtführungen mit zwei verschiedenen Guides, an denen wir teilgenommen haben, können wir das Format nur wärmstens empfehlen. Auch diejenigen, die sich gut mit Lobbyismus auskennen, lernen hier garantiert dazu, denn die Stadtführung wird immer wieder aktualisiert und neuen Entwicklungen angepasst. Die Guides sind in der Regel freie Mitarbeiter von LobbyControl und studierte Politikwissenschaftler. Sympathisch an ihnen ist, wie an der dahinterstehenden NGO, dass sie Lobbyismus nicht pauschal ablehnen – immerhin ist auch LobbyControl ist eine Lobby-Organisation. Vielmehr geht es um Gerechtigkeit und Transparenz, die weder im System der Bundesrepublik noch in der EU in ausreichender Weise gegeben ist.

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Zwischen Aufklärung über Gesetze und die lobbyistische Praxis, besonders umtriebige Lobbyorganisationen wie der Initiative Soziale Marktwirtschaft und Vokablen wie Drehtüreffekt und Karenzzeit geht es bei den knapp dreistündigen Stadtführungen gern auch mal unterhaltsam zu. Man darf sich der Anekdotenkenntnis der Guides sicher sein, sei es zum Thema Personalia oder zur Funktion des wie eine Mischung aus Geheimbund und Herrenclub konzipierten China Club, dessen Undurchsichtigkeit einer Jalousie gleicht, die einmal über die gläserne Kuppel des Reichstagsgebäudes gezogen wird.

Übrigens: Die nächsten Termine für die Stadtführungen stehen schon fest: 18. Oktober, 1. November, 15. November. Meldet euch rechtzeitig an!

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Mehr Informationen: Direkt beim Veranstalter LobbyControl.

Kostenpunkt: 10 gut investierte Euro pro Person

Was sich noch damit verbinden lässt: Wer nicht schnellstens die Flucht in einen angenehmen Stadtteil ergreifen möchte, könnte den angebrochenen Nachmittag bei einem guten Kaffee und einem Buch in der wirklich schönen Buchhandlung Ocelot in der Brunnenstraße ausklingen lassen.

Essen und Trinken: In unmittelbarer Nähe der lobbykritischen Tour ist alles auf die Bedürfnisse von Touristen und Lobbyisten zugeschnitten – kaum geeignet also, um sich hier lange aufzuhalten. Wer bereit ist, zwei Stationen mit der S-Bahn zu fahren, dem sei das schönste traditionelle Café in Mitte ans Herz gelegt: Das “Alte Europa”. Und wer sich doch noch nicht von dem Trubel Unter den Linden trennen kann, der gehe eben mal ins Café Einstein. Aber Achtung: Hier richten sich auf die Preise nach der Zielgruppe.

Spreewald – solange es noch grünt!

Es herbstet sehr. Das ist auch der Grund für unser langes Schweigen. Bevor die Stimmung von Oktober auf November fällt, haben wir noch einige Ausflugsziele im Berliner Umland für euch getestet.
Diesmal an der Reihe: Der Spreewald. Stellten wir doch fest, dass selbiger mit Bahn und Auto gleichermaßen gut zu erreichen ist und außerdem den Vorzug hat, dass er sich exzellent mit einem weiteren Ausflugsziel verbinden lässt, das wir demnächst noch ausführlicher vorstellen werden.

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Der Spreewald hat viele Anlaufstellen, von denen aus es sich ins Grüne starten lässt. Wir haben ganz klassisch Lübben gewählt, das auch mit dem Zug von Berlin in gerade mal einer Stunde gut zu erreichen ist.
Das Schöne am Spreewald ist, dass es sich dabei um ein Naturreservat handelt, das sich in den vergangenen 20 Jahren optisch nicht verändert hat. Zumindest ist das die Überzeugung der Autorin dieser Zeilen, deren letzter Spreewald-Besuch annähernd so lange her ist. Im Jahre 1996, im zarten Alter von neun Jahren, wurde sie von einem Spree-Kahnfahrer auserkoren, um beim Öffnen der vielzähligen Schleusen, die man bei so einer Kahnfahrt durchqueren muss, zu helfen. Das war aufregend und gab am Ende Trinkgeld – fast 14 Mark, damals sehr viel Geld für eine Neunjährige. Ob die Spree-Kahnfahrer Kindern an Bord noch heute solche Kindheitserinnerungen ermöglichen, wissen wir nicht. Feststeht, dass die touristische Infrastruktur sich seit 1996 professionalisiert hat. Für Erwachsene kostet eine Kahnfahrt nunmehr mindestens 10 Euro.

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Ob man nun eine Kahnfahrt unternimmt oder lieber kleine Wanderrouten aussucht entlang der schmalen Kanäle aussucht: Wer sich im Spreewald ein bisschen Zeit nimmt, hat auf jeden Fall Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen. Manche Stelle erinnert sogar ein wenig an die unberührten Regionen Skandinaviens. Obwohl der Spreewald eigentlich viel zu charakteristisch ist, um verglichen zu werden.

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Wie man hinkommt: Gut mit dem Regionalexpress ab Berlin bis Lübben oder Lübbenau. Von da aus zu Fuß. Mindestens so leicht geht es mit dem Auto: Einfach ab Berlin Richtung Cottbus fahren und nach etwa einer Stunde die Ausfahrt Lübben nehmen. Parkplätze gibts en masse.

Was sich damit verbinden lässt: Lübbenau liegt auf halber Strecke zwischen Dresden und Berlin. Es bietet sich also ein verlängerter Ausflug nach Dresden, in die Sächsische Schweiz oder gar über die Grenze ins Böhmische Paradies an.

Plänterwald

Menschen sind bekanntlich verschieden. Manche, darunter auch die Autorin dieser Zeilen, müssen sich erst Hunderte von Kilometern von der Wirkungsstätte ihres Alltags entfernen, um so etwas wie ein Gefühl des Runterkommens zu entwickeln. Ganz gelegentlich gelingt es aber doch, das Abschalten innerhalb der Stadttore. Es dürfte keine Berlin in seiner geographischen und demographischen Ausdehnung vergleichbare Stadt geben, die einem nur wenige Kilometer von einem ihrer Zentren entfernt vorgaukelt, die Stadt bereits verlassen zu haben. Und das mit Wäldern, Booten, verlassenen Radiostationen und Kleingartenanlagen, deren Ausgestaltung man so nur aus Städten unter der 100.000-Einwohner-Marke kennt.

Nun hätten wir an dieser Stelle gern über unseren Besuch des stillgelegten Spreeparks berichtet. Wie weitläufig bekannt, ist ein Besuch desselben nunmehr vielleicht nicht unmöglich, aber wenigstens sinnlos geworden. Als hätten wir eine böse Vorahnung gehabt, waren wir nur wenige Wochen vor der fürchterlichen Brandstiftung, die Berlin ein Stück Identität gekostet hat, zum ersten Mal vor Ort und staunten, einmal wieder, über den Charme der Modibität, den man in Berlin nicht lange suchen muss.

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Nostalgie an dieser Stelle ergibt keinen Sinn, und trotzdem wollen wir euch einen Ausflug empfehlen, der euch nah an das ehemalige Spreepark-Gelände heranführt. Der Plänterwald ist neben dem Grunewald der wahrscheinlich schönste natürliche Wald, der von der Innenstadt aus in gerade einmal 30 Minuten zu erreichen ist. Dazu hat man am Spreeufer mitten im Wald die Gelegenheit, eine Mini-Boots-Spritztour zum Preis einer BVG-Kurzfahrtstrecke zu machen. Dort verkehren nämlich kleine BVG-Wassertaxis mit wirklich netten Kapitänen (ob man die wohl so nennt?), die einem das schnelle Pendeln zwischen Neukölln und Lichtenberg/Rummelsburg ermöglichen.

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Warum sich das Übersetzen auf die andere Seite des Ufers lohnt, wird man ebendort ziemlich schnell feststellen. Nichts, aber auch gar nichts mehr erinnert in unmittelbarer Spreeufer-Nähe auf der Rummelsburger Seite an das Berliner Hauptstadtfeeling, das in Neukölln durchaus noch sehr präsent ist. Unser Highlight war das stillgelegte DDR-Rundfunkhaus, das leider securitybewacht ist und nur zu den eher seltenen Führungszeiten von innen besichtigt werden kann. Trotzdem: Selbst wer keine Führung mitmacht, kann hier seinen Spaß haben. Verwucherte Fassaden und rostige Gitterstäbe beflügeln die Fantasie – und man muss dafür nicht extra einen Ausflug nach Beelitz-Heilstätten unternehmen.

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Mehr Informationen:

Führungen im DDR_Funkhaus: http://www.nalepastrasse.de/funkhaus-intern/fuehrungen

Wie man am besten hinkommt: Mit dem Fahrrad, weil man auch vor Ort mobil sein will. Alternative: Mit der S-Bahn zur Station “Plänterwald” und von da aus spazieren.

Was noch in der Nähe ist: Wald-Restaurants mit Eis am Stiel, Fischbrötchen und Pommes frites.